⭐️ 2/5

Autor: James Hawes
Vollständiger Titel: Die kürzeste Geschichte Deutschlands
Genre: Sachbuch
Seiten: 336
Erschienen: 2. Juli 2019; 15. Auflage
ISBN-10: 3548060439
Gelesen: April 2022

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Vorsicht, das hier ist kein Geschichtsbuch – auch, wenn es so daher kommt.
Es ist ein Buch, dass mich zwiegespalten zurück lässt.
Auf der einen Seite ist es ein kraftvoller Ritt durch die deutsche Geschichte. Auf der anderen Seite ist es der Versuch zu ergründen, weshalb Ost- und West-Deutschland so unterschiedlich sind. Die geschichtlichen Ereignisse sind dabei die Beweisführung des Autors.

Der Brite James Hawes ist weder Historiker noch Geisteswissenschaftler oder Spezialist für Kulturen oder Gesellschaften. Hawes ist Schriftsteller.
In seinem Bestseller „A short History of Germany“ von 2017 versucht er die Probleme der Deutschen mit ihrem Ost-Deutschland zu ergründen. Das Buch ist auf der Spitze der europäischen Flüchtlingswelle entstanden und fragt sich: „Wieso sind die Ossis so anders? Wieso hassen sie Ausländer und wählen die AfD?“
Der korrekte Titel wäre entsprechend wahrscheinlich eher sowas wie „Understanding the East-German“ gewesen.
Denn Hawes‘ These ist die Folgende: Ossis sind so anders, weil weite Teile des östlichen Deutschlands keine Germanen – und damit Deutsche –, sondern vielmehr „(Ost-)-Elbier“ sind. Alles rechts der Elbe („die große Bruchlinie der deutschen Geschichte“) gehöre eigentlich gar nicht mehr zum „Deutsch sein“.
Auf der anderen Seite treibe die Verehrung Preußens „dort drüben“ eben die nicht-germanischen Idiologien voran.

Immer wieder kommt Hawes in seiner Beweisführung auf die Limes-Linie des alten Römischen Reichs zurück, die Deutschland von den Preußen trennte – und damit im Grunde klar macht wer Deutsch (links des Limes) und Preuße (rechts hinter dem Limes) ist. Schon die Römer hätten schließlich vor diesen Menschen Angst gehabt.
Und so sei angefangen von den Überfällen auf Römer über die mittelalterlichen Kleinkriege, bis hin zur Verliebtheit in die preußische Militärgeschichte und Junker-Kasten zu erklären, weshalb Deutschland als Eines nur ein politisches, nicht jedoch ein ausreichend ideologisches Konstrukt ist.
Das Beste für Ost und West wäre somit doch eigentlich die Spaltung?!

Als Ost-Deutscher, der das Buch liest, kommt man sich zuweilen vor als bürde Hawes einem persönlich alles auf, was im Lauf der deutschen Geschichte so schief ging.

Selbst bei der entscheidenden Wahl Adolf Hitlers 1933 sei die alte Kulturlinie sichtbar.
In vielen Gegenden des Limes von 100 nach Christus blieb Hitler auch zu diesem Zeitpunkt noch unter 40%. [Selbst unter den besten Voraussetzungen] schaffte es Hitler nicht im Westen und Süden ausreichende Eroberungen [von Wählerstimmen] zu machen. […] Hitler verfehlte im Westen klar die Mehrheit. Doch hohe Stimmenanteile in Ost-Elbien bescherten ihm ein landesweites Ergebnis von 43%
Die Verhältnisse östlich des Flußes [der Elbe] sind andere – und so war es schon vor 1.000 Jahren“, konstatiert Hawes nach diesen Ausführungen (und auch sonst immer wieder).

Konrad Adenauer, bringt Hawes vor, hätte diese tiefe Spaltung nach dem 2. Weltkrieg erahnt. Und eine historische Chance wäre zum Greifen nah gewesen.
Adenauer Adenauer sei „die Integration Westdeutschland in den Westen wichtiger, als die Wiedervereinigung Deutschlands“ gewesen. Und so habe er dem amerikanischen Botschafter Rusk wenige Tage vor dem Mauerbau vorgeschlagen, die Amerikaner sollten ihren Sektor Berlins einfach gegen Thüringen sowie Teile Sachsens und Mecklenburgs tauschen.

Es kam anders.
Und Hawes kommt nach 2.000 Jahren im Hier und Jetzt an. Er zählt kurz Merkels Fehler auf und kommt dann zum Schlußplädoyer. Davor hatte ich am Ende fast schon Angst, kann mich aber irgendwie auch anfreunden.
Denn Hawes legt schlicht dar, dass die Politik die von den Ostdeutschen – insbesondere den Sachsen, Vorpommern und Brandenburgern – gewählten Rechten in der gesamtdeutschen Mission am besten ignorieren sollten.
Denn im Osten wählte man halt nicht Rechts wegen einer vermasselten Wiedervereinigung, sondern einer 2.000-jährigen Geschichte, die eben keine deutsche sei.

Hawes Werk ist geschichtlich gesehen spannend, aber mit einiger Vorsicht zu ‚genießen‘.
Es ist jedoch bestens geeignet das Interesse an deutscher Geschichte erneut zu wecken, um mit anderen Werken tiefer vorzudringen. Und trotz der ganzen „Anti-Ost“-Stimmung waren durchaus einige Aha-Momente enthalten, die mir in der Schule entgingen oder fehlten.

Hätte Hawes seine These indes auf „Kern-Europa vs Ost-Europa“ konzentriert und darauf, weshalb Ost-Europa so anders ist – ich wäre vielleicht aufgeschlossener gewesen, weil sich hier vielleicht eben doch ein geschichtlicher Bruch an der Limes-Linie entlang zieht, wenn es um Glaubens- und Lebensentwürfe geht?
so aber lässt sich über seine These hervorragend streiten. Ich glaube weniger, dass sich die Deutschen im Osten heute noch gegen den Westen stemmen, weil sie sich einem kleinen Völkchen im Nord-Osten Europas (den ursprünglichen Preußen) zugehörig oder keine Germanen sind. Ja, Kultur und Geschichte beeinflussen uns alle. Doch das Konstrukt „Deutsche Nation“ existiert dann doch auch wieder viel zu lang? Der Ossi von heute dürfte von den letzten 50 Jahren wesentlich mehr geprägt sein, als den 1950 Jahren zuvor.