Die TikTok'isierung von Social Media
Facebook ändert den Kurs. Damit kapituliert der Social Media-Ozeandampfer endgültig vor TikTok. Doch wohin treibt das uns Social Media Verantwortlichen? Über das was ist, kommt und worin die Herausforderung liegt.
TikTok hat gewonnen.
Zu diesem Ergebnis muss man zwangsläufig kommen, wenn man die neuste Ankündigung der Facebook-Mutter Meta liest. Darin kündigt das Unternehmen eine deutliche Kurskorrektur für Facebook an. Künftig nämlich sind virale Inhalte wichtiger als Freunde.
Konkret bedeutet dies, dass auf der Startseite künftig vor allem vom Algorithmus empfohlene Inhalte statt Nachrichten von Freuden zu finden sind.
Klicks werden wichtiger als Freunde
Das ist eine dramatische Abkehr von dem, was Facebook bisher voran trieb.
Anfang 2018 hatte man noch ausgerufen den Menschen ins Zentrum der eigenen Plattform zu stellen. „Bedeutsame Unterhaltungen“ wollte man fördern, statt schnelllebiger Klicks.
Facebook was built to bring people closer together and build relationships. One of the ways we do this is by connecting people to meaningful posts from their friends and family in News Feed. Over the next few months, we’ll be making updates to ranking so people have more opportunities to interact with the people they care about, schrieb damals Adam Mosseri ins Facebook-Blog.
Heute treibt eben jener Mann übrigens seit Monaten den Umbau Instagrams voran. Die App wird künftig nicht nur mehr wie TikTok aussehen, auch streut der Algorithmus immer mehr Inhalte von nicht abonnierten Accounts ein. Und künftig werden schlichtweg alle Videos unter 15 Minuten zu Reels – jenem Videoclip-Format, dass vor allem auf schnelles Vergnügen und den guten Dopamin-Kick setzt.
Facebooks Umbau macht klar, dass der Kampf der Plattformen zumindest bei den Formaten vorbei ist. Ohne „snackable Video-Content“ und dem richtigen Verständnis für Memes und Zeitgeistiges wird kein Social Account mehr eine Chance haben.
Und wer sich als Konsument wirklich nur noch mit Freunden unterhalten will, wird in Zukunft wohl immer mehr zu Dark Social-Apps wandern, die einen privaten Austausch in definierten Kreisen ermöglichen. Sei es in WhatsApp-Gruppen (für die Älteren), geteilten Accounts bei TikTok oder Community-Servern auf Discord.
Wer TikTok bis heute nicht verstanden hat ist verloren
Social Media-Arbeitende, die bis heute TikTok entweder ignoriert, nicht verstanden oder sich als zu alt dafür befunden haben stehen jetzt vor einer riesigen Herausforderung. Sie müssen in den nächsten Monaten viel beobachten, ausprobieren und lernen.
Und viel Überzeugungsarbeit leisten. Denn noch immer gibt es genug Markenverantwortliche, die meinen der „Cutdown eines TV-Spots würde genügen“ um gute Inhalte für Social Media zu generieren. Vergesst es. Und der Social Media-Gott sei mit jenen meiner Kollegen:innen, die ihre Kunden und Kollegen nicht von dieser Überzeugung abbringen können. 2022 heisst es endgültig Abschied nehmen von althergebrachten Weisheiten.
Impressions kannst du dir nach wie vor kaufen, den verdienten Platz im neuen Feed und die dadurch gegebene Aufmerksamkeit nicht. Hier zählen jetzt nur noch das richtige Marken- und Formatverständnis.
Herausforderung für Gesellschaft und Social Media Verantwortliche
Sicherlich. Das ist, gesellschaftlich gesehen die schlimmstmögliche Entwicklung.
Oder wie Richard Gutjahr es formuliert: Meta übernimmt „die schlimmsten Praktiken von TikTok und integrieren diese in die eigenen Produkte. Genausogut könnte man auch Crack in Kitas und auf dem Pausenhof verteilen“. Böse formuliert aber mit Blick auf den Konsumenten wahr.
Und Social Media-Macher müssen dummerweise lernen, wie sie dieses Crack herstellen, wenn sie im Dauergeballer von dumpfen Inhalten durchscheinen wollen. Dann hilft vielleicht wenigstens eine kleine Selbstverpflichtung, die man sich auferlegen kann: gute Inhalte zu machen, lehrreiche und hilfreiche.
„Social Media Methadon“, quasi.
Dabei sind gerade die Unternehmen am Weg, den Meta jetzt einschlägt nicht unschuldig.
Für Social Media Arbeitende dürften die kommenden Monate sehr spannend werden. Bisher waren Facebook, Instagram und TikTok sehr deutlich von einander distanzierte Netzwerke. Vereinfacht könnte man sagen auf Facebook fand man primär die Eltern, auf Instagram die erwachsenen Kinder und auf TikTok die GenZ. Nun biedert sich Meta mit seinen Produkten bei eben dieser GenZ an, die für Werbetreibende gerade so wichtig ist.
Keiner weiss, was uns erwartet
Es wird spannend zu sehen sein, ob dieser Schuss vor allem für die Facebook App nicht nach hinten los geht – und statt die GenZ anzulocken, auch noch deren Eltern vergrault. So würde für Facebook niemand mehr bleiben.
Der Vorteil von TikTok ist, dass dort nicht die Eltern der Nutzer:innen sind (noch nicht zahlreich zumindest). Und die GenZ hat nicht den geringsten Anreiz, jetzt zu Facebook (zurück) zu kommen. Ihre Videos haben sie in TikTok, auf Youtube und Twitch, ihre Gruppen in Fortnite und Discord. Und bereits unter der Nutzerschicht von Instagram regt sich deutlicher Widerstand gegen die Experimente der App mehr zu TikTok zu werden …
Die Herausforderung der nächsten Monate wird, zu sehen wie sich Nutzerschichten, Nutzungsweisen und Content-Ansprüche ändern werden. Ich denke nicht, dass wir in 12 Monaten ein Video für alle drei Plattformen nutzen können. Ebenso wenig wie heute.
Vielmehr sehen wir wahrscheinlich eine noch größere Zersplitterung.
Creators und Marken, die Facebook trotz aller Anstrengungen von Meta, den Rücken kehren und zu Discord wechseln werden, um dort Communities aufzubauen – zum Beispiel.
Als Social Media Verantwortlicher mag ich genau das an meinem Beruf: die wundersame Reise der Tests, des Probierens und Anpassens endet nie. Dabei müssen Social Media Verantwortliche und vor allem auch deren Kunden und Partner in Zukunft noch flexibler agieren als in den letzten Jahren.
Jetzt ist Mut und Experimentierfreude gefragt.